Der Titel dieser Webseite lautet "ADHS Diskurs". Weshalb das so ist, möchte ich in diesem Beitrag kurz darstellen.
Vorerst einmal Bezieht sich das Wort "Diskurs" im weitesten Sinne auf den Gebrauch von Sprache, sowohl in schriftlichen Texten als auch in Gesprächen und deren Rolle im gesellschaftlichen Leben (Cook, 2008). Diskurs kann somit ‘alles von einem historischen Moment..., einer Richtlinie, einer politischen Strategie ... bis hin zur Sprache an sich’ beschreiben (Wodak & Meyer, 2009, S. 2).
Die Untersuchung solcher Diskurse aus bspw. soziologischer oder psychologischer Sicht wird als Diskursanalyse bezeichnet. Seit Mitte der 1990er Jahre ist solche diskursive Forschung in der Wissenschaft auf wachsendes Interesse gestossen (Potter, 2008), und es gibt eine grosse Vielfalt von theoretischen Bezügen, verwendeten Begriffen und Ansätzen. In dieser Untersuchung habe ich einen Ansatz gewählt, der in den Teilbereich der Foucaultschen Diskursanalyse fällt und stark auf dem philosophischen und soziologischen Werk von Michel Foucault (cf. Michel Foucault, 1989) aufbaut.
Foucaults Ziel war es, Licht darauf zu werfen, wie Diskurse Objekte wie ‘ADHS’ und Identitäten wie bspw. die von Ärzt*innen, Lehrer*innen, Eltern und (Schul-)Kindern hervorbringt. Ein Foucaultscher Diskursansatz zielt darauf ab, Diskurse in ihrer historischen Entstehung zu betrachten. Dies erlaubt es, die einzelnen Teile diskursiver Praktiken in ihrer derzeitigen Form zu betrachten und sie mit ihrer historischen Entwicklung zu verknüpfen. In Foucaultschen Ansätzen werden Diskurse als institutionalisierte Rationalitäten (d.h. als begründete Logiken und Vorgehensweisen) verstanden, die mit Handlungsfähigkeit verbunden sind und Macht ausüben (Bartel & Ullrich, 2008).
Für Foucault sind Diskurse insofern produktiv, als sie die Objekte produzieren, von denen sie sprechen. Mit anderen Worten: Sexualität, ‘Wahnsinn’ oder, im Fall dieser Untersuchung, ‘ADHS’ sind keine natürlichen Erscheinungen, sondern konstruierte Wirklichkeiten und ‘Wahrheiten’, die mit Macht verstrickt sind. Wie Carabine (2001) betont, etablieren und erhalten Diskurse auf diese Weise das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als ‘Wahrheit’ gilt. Dadurch spiegeln Diskurse nicht nur Wirklichkeit wider, sondern produzieren Subjekte und schaffen Wirklichkeiten (Link, 1992).
Was etwas kompliziert klingen mag, lässt sich auch so formulieren: Ohne Diskurs gäbe es kein ADHS. Erst durch die Bezeichnung von gewissem Verhalten bei Kindern als "ADHS" und den darauf folgenden Praktiken, wie etwa (psychologischen) Tests und der Vergabe von Medikamenten, wird ADHS als 'Wirklichkeit' geschaffen. Diese Webseite bieten einen Einblick in den komplexen Diskurs um ADHS im Kindesalter in der Schweiz.
Referenzen:
Bartel, D., & Ullrich, P. (2008). Kritische Diskursanalyse – Darstellung anhand der Analyse der Nahostberichterstattung linker Medien. In U. Freikamp, M. Leanza, J. Mende, S. Müller, & P. Ullrich (Hrsg.), Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik. Dietz.
Carabine, J. (2001). Unmarried Motherhood 1830-1990: A Genealogical Analysis. In M. Wetherell, S. Taylor, & S. Yates (Hrsg.), Discourse as Data: A Guide for Analysis (First edition, S. 267–310). Sage.
Cook, K. (2008). Discourse. In L. M. Given (Hrsg.), The SAGE Encyclopedia of Qualitative Research Methods (1 edition, S. 217–218). Sage.
Fairclough, N. (2009). A dialectical-relational approach to critical discourse analysis in social research. In R. Wodak & M. Meyer (Hrsg.), Methods of critical discourse analysis (S. 162–186). SAGE.
Fairclough, N. (2010). Critical Discourse Analysis: The Critical Study of Language. Routledge.
Foucault, M. (1989). Discipline and Punish: The Birth of the Prison (A. Sheridan, Übers.). Penguin.
Link, J. (1992). Die Analyse der symbolischen Komponenten realer Ereignisse. Ein Beitrag der Diskurstheorie zur Analyse neorassistischer Äußerungen. In S. Jäger & F. Januschek (Hrsg.), Der Diskurs des Rassismus (S. 37–52). Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 45.
Potter, J. (2008). Discourse Analysis. In L. M. Given (Hrsg.), The SAGE Encyclopedia of Qualitative Research Methods (S. 218–220). Sage.
Reisigl, M., & Wodak, R. (2010). The discourse-historical approach. In R. Wodak & M. Meyer (Hrsg.), Methods of critical discourse analysis (S. 87–121). Sage.
Wodak, R., & Meyer, M. (2009). Critical discourse analysis: History, agenda, theory and methodology. In R. Wodak & M. Meyer (Hrsg.), Methods of critical discourse analysis (S. 1–33). Sage.