Dieser Beitrag skizziert kurz, wie unsere Vorstellungen von Kind und Kindheit sich im Wandel der Zeit verändern.
Chris Jenks (2005) fand in der historischen und kultur-übergreifenden Literatur über Kindheit zwei dominante Traditionen der Konzeptualisierung von Kind und Kindheit. Er bezeichnet sie als dionysische und apollonische Bilder des Kindes.
Das dionysische Kind
Das dionysische Bild stellt Kinder als potenziell böse, eigensinnig und stur dar, betont jedoch gleichzeitig, dass Kinder durch Disziplinarmassnahmen Unschuld erlangen können. Im Lichte dieser Idee wurde die Sozialisierung von Kindern als eine Form des Kampfes betrachtet. Folglich bestand Elternschaft aus einer strengen und distanzierten moralischen Führung (ebd.). Diese harte Form der Kindererziehung spiegelte sich auch im schulischen Umfeld wider, wo die Durchsetzung strenger Disziplin verschiedene Formen der körperlichen Bestrafung beinhaltete (Michel Foucault, 1989). Dieses Bild, so Jenks, war vor allem in der Zeit des Puritanismus dominant, hielt aber bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein an und prägte ‘die systematische säkulare Erforschung der Seele’ (2005, S. 64) innerhalb der Traditionen der Psychoanalyse.
Das apollonische Kind
Das Apollonische Bild hingegen betont die engelsgleiche, unbefleckte und unschuldige Natur von Kindern. Hier werden Kinder nicht gezügelt oder in Unterwerfung geschlagen, sondern ermutigt, unterstützt und befähigt. Jenks (2005) argumentiert, dass dieses Bild der modernen Art und Weise, Kinder zu betrachten, entspricht, zumindest in der Minoritätswelt (d.h. im 'globalen Westen', inkl. der Schweiz). Beide Bilder sind seiner Meinung nach insofern immens stark, als sie Diskurse über Kinder und Kindheit prägen und die Art und Weise, wie wir mit Kindern umgehen, zusammenfassen.
Das dionysische und apollinische Bild prägt dementsprechend die Art und Weise, wie wir Kinder, insbesondere jene, die ‘abweichendes Verhalten’ zeigen, verstehen und behandeln. Während solche Kinder unter dem dionysischen Bild als absichtlich ‘böse’ angesehen wurden, neigen neuere Entwicklungen hin zum apollinischen Bild dazu, Kinder von moralisierenden Urteilen über ihr Verhalten zu befreien. Folglich werden Kinder, welche ‘abweichendes Verhalten’ zeigen, als von Natur aus gut, jedoch als 'pathologisch' angesehen. Diese Sichtweise propagiert, dass gewisse psychische 'Störungen' Kinder daran hindert, die Verhaltensmuster zu zeigen, welche Gesellschaften im 'Globalen Westen' (bspw. in der Schweiz oder in Japan) für angemessen halten (wobei es hier signifikante soziale, politische und kulturelle Unterschiede gibt).
Dadurch wird ihnen jedoch etwas von ihrer Autonomie und Handlungsfähigkeit genommen und sie werden potenziell Behandlungen unterworfen, welche darauf abzielen, ihr Verhalten gefügig zu machen. Jüngere Entwicklungen in Richtung fortgeschritten-liberaler Subjektivität (M. Dean, 2010) legen jedoch nahe, dass Kinder als kompetente soziale Akteure betrachtet werden sollten, die über eigene Rechte verfügen (Baraldi & Cockburn, 2018; Liebel, 2007, 2008).
Das athenische Kind
Es ist dieser Fokus auf eine fortgeschritten-liberale Subjektivität, welche Karen Smith (2012) dazu veranlasst hat, die beiden Bilder des dionysischen und des apollinischen Kindes durch das Bild des athenischen Kindes zu ergänzen. Dieses betont das Ziel fortgeschritten-liberaler Lenkungsbemühungen, nämlich Subjekte zu fördern, welche fähig und willens sind, sich selbst zu lenken. Smith argumentiert, dass diese Eigenschaften bei Kindern durch Strategien von Verantwortung und Partizipation gefördert werden sollen. ADHS wird so zu einem Mangel, sich selbst lenken und optimieren zu können.
Sie schlägt ferner vor, dass diese Kindheitsbilder zwar nicht die Gesamtheit der historischen und gegenwärtigen Konstruktionen von Kindheit darstellen, aber einen nützlichen Rahmen bieten, um die Verstrickung von diskursiven Konstruktionen von Kindheit und Machtverhältnissen wie Klasse, Geschlecht und ‘Rasse’ zu untersuchen (ebd.)
Referenzen
Baraldi, C., & Cockburn, T. (2018). Theorising Childhood: Citizenship, Rights and Participation. Palgrave Macmillan.
Dean, M. (2010). Governmentality: Power and rule in modern society. Sage.
Foucault, M. (1989). Discipline and Punish: The Birth of the Prison (A. Sheridan, Übers.). Penguin.
Jenks, C. (2005). Childhood. Routledge.
Liebel, M. (2007). Wozu Kinderrechte: Grundlagen und Perspektiven. Juventa.
Liebel, M. (2008). Citizenship from Below: Children’s Rights and Social Movements. In J. Williams & A. Invernizzi (Hrsg.), Children and citizenship. Sage.