Dieser Artikel problematisiert die vielen negativen Bezeichnungen für Kinder im Diskurs um ADHS.
Die (amerikanische) Psychiatrie, wie sie in der Schweiz üblich ist, tendiert dazu, Verhaltensweisen von Kindern zu kategorisieren und als problematisch zu bezeichnen. Sobald die Verhaltensmuster einer bestimmten ‘Diagnose’ definiert sind, können diese dann als Instrument zur Identifizierung derjenigen dienen, von denen angenommen wird, dass sie diese Kriterien erfüllen. Die Zuschreibung solcher Diagnosen an Kinder wird als Labelling bezeichnet.
In ähnlicher Weise werden Kinder auch im öffentlichen Diskurs gelabelt. Während ‘ADHS’ an und für sich ein Label ist, ist es bemerkenswert, wie viele weitere Labels verwendet werden, um sog. abweichendes Verhalten im Diskurs um ADHS zu beschreiben. Dazu gehören 'unberechenbar', 'untragbar', 'verhaltensauffällig', 'schwierig', 'therapiebedürftig', 'unsozial', 'gewalttätig', 'problembeladen', 'frech', 'aggressiv', 'störend', 'ungehorsam', 'nervig', 'wild', 'fordernd', 'langsam', 'delinquent', 'temperamentvoll' und 'dumm'. Darüber hinaus werden Kinder als 'Problemkind', 'Risikokind', 'Monster', 'schwererziehbarer Bub' und 'ungezogene Göre' dargestellt. Solche Zuschreibungen wirken sich natürlich auf die beschriebenen Kinder aus.
Durch ständige Wiederholung sind sie Teil einer ‘Umschreibung der individuellen Pathologie’ (M. Dean, 2010, S. 219), welche die ‘Andersartigkeit’ von Kindern, die mit ‘ADHS’ gelabelt werden, gegenüber 'normalen' Kindern definiert. Solche Zuschreibungen stigmatisieren Kinder. Durch ihre fortlaufende Wiederholung tragen sie zur Herausbildung der Idee von ‘abweichendem Verhalten’ bei. Kinder, die mit ‘ADHS’ gelabelt sind, werden daher als ‘abweichend’ angesehen, was auch einen Einfluss auf diagnostische Prozesse hat: bewertet wird ihr ‘abweichendes Verhalten’.
Es kann hier argumentiert werden, dass einige Spuren des Bildes vom dionysischen Kind (Jenks, 2005; d.h. dem 'bösen' Kind, siehe Ausführungen in diesem Beitrag) immer noch sichtbar sind. Dieses Argument wird durch Berichte von Eltern selbst untermauert, die öffentlich kundtun, dass sie ihre Söhne für ‘böse’ halten. In einem Zeitungsartikel sagte eine Mutter: ‘Ich dachte mir, mein Gott, was hab ich für ein Monster produziert’ (Minor, 2007). In einem weiteren Zeitungsrtikel bemerkt der Autor:
Wer jemals ein hyperaktives Kind erlebt hat, kann erahnen, was dessen Familie durchmacht. Diese Kinder nerven. Jahraus, jahrein. Manchmal könnten selbst ihre eigenen Eltern sie ‘an die Wand klatschen’, wie ein Vater einmal sagte (Schneebeli, 2010).
Solche Berichte werden auch verwendet, um die Verabreichung von Psychopharmaka (wie bspw. Ritalin / Methylphenidat) an Kinder zu bewerben. Im obigen Artikel argumentiert die Mutter, die ihr Kind als ‘Monster’ bezeichnete, dass vor der Verabreichung von Medikamenten an ihre zehn und acht Jahre alten Söhne ‘die Welt eine kleine Hölle [war], denn beide Buben leiden an der Aufmerksamkeitsstörung ADS’ (Minor, 2007).
Die Verschreibung von Medikamenten kann hier also als Mittel der Bestrafung verstanden werden, um das ‘Monster’ (siehe weiter oben) wieder ‘liebenswert’ zu machen (Ciba-Geigy, 1971, S. 108). In einer Werbekampagne für ADHS Medikamente aus dem Jahre 2010 wurde das Bild eines Jungen im Kostüm eines Monsters abgebildet (Copyright: Shire; Bild wird direkt vom adhspedia Server geladen):
Die Firma Shire, die ihre Produkte auch in der Schweiz bewirbt, verspricht:
'Seine ADHS-Symptome können stören, doch [unter der Verkleidung] verbirgt sich ein tolles Kind. Jetzt gibt es einen Weg [das Medikament], dem Jungen aus der Verkleidung zu helfen... lassen Sie Veränderungen an Ihrem Kind für die ganze Familie sichtbar werden (vgl. hier).
Vor dem Hintergrund jüngerer Orientierung hin zum athenischen Bild von Kindheit kann argumentiert werden, dass solche Mittel dazu dienen, das Kind als ‘krank’ und nicht als ‘böse’ zu begreifen. Dieser Wandel wird zusätzlich untermauert, indem die Betonung auf das Leid, welches solche Kinder erfahren, und nicht auf der ‘Bosheit’ ihres Verhaltens gelegt wird. Schilderungen wie die oben zitierten legen nahe, dass der allgemeine Umgang mit ‘abweichendem’ Verhalten darin zu bestehen scheint, Kindern (psychiatrische) Labels zuzuschreiben, die dann als Legitimation für die Verschreibung von Psychopharmaka dienen.
Doch sowohl die Definition als auch die Zuweisung von Labels sind nicht neutral, sondern hängen von dem kulturellen Kontext ab, in den sie eingebettet sind, und von den politischen Prozessen, aus denen heraus sie entstehen.
Persönlich hat mich die Vielfalt der zur Beschreibung von 'abweichenden' Kindern verwendeten, stigmatisierenden Bezeichnungen schockiert. Obwohl die Untersuchung ihrer Auswirkungen auf Kinder ausserhalb des Rahmens dieser Diskursanalyse lag, weisen sie dennoch auf problematische Machtverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen hin.
Es scheint unbestritten, dass in unserem Gesellschafts- und Bildungssystem viele Kinder leiden, darunter auch insbesondere jene, die mit 'ADHS' gelabelt werden. Ein erster Schritt, dieses Leid zu lindern, dürfte wohl eine Abwendung von all den oben beschriebenen stigmatisierenden Bezeichnungen sein.
Vielmehr sollten wir bemüht sein, jedes Kind in seiner Individualität zu verstehen, zu begleiten und zu fördern. Das derzeitige Schulsystem ist jedoch auf Normierung und Unterdrückung ausgelegt. Solange wir dies nicht ändern, werden viele Kinder zweifelsohne auch in Zukunft darunter leiden.
Referenzen
Ciba-Geigy. (1971). Ritalin helps ‘the problem child’ become lovable again. [Advertisement for Ritalin]. Canadian Family Physician, 17(2), 108.
Dean, M. (2010). Governmentality: Power and rule in modern society. Sage.
Jenks, C. (2005). Childhood. Routledge.
Minor, L. (2007). Ihr Körper kann nicht tun, was das Hirn gerne möchte. Tagesanzeiger.
Schneebeli, D. (2010). Die Zahl der Ritalin-Kinder steigt—Dennoch geben Ärzte Entwarnung. Tagesanzeiger.